Astrologie ist seit Jahrtausenden ein Spiegel der Bewusstseinsentwicklung wie Entwicklungsraum für Bewusstsein selbst. Als durchgängiges (Be)Deutungssystem ist sie in so gut wie allen Kulturen zu finden. Die Astrologie beschreibt die Einbindung des Menschen in die planetaren Zyklen unseres Sonnensystems – wo ja die Einflüsse der Sonne (der Jahreszyklus) und des Mondes (der vierwöchige Menstruationszyklus der Frau) nicht geleugnet werden können. Astrologie bedeutet Anbindung an den Kosmos schon zur Zeit des Entstehens der magischen Bewusstseinsstruktur, als sich der Mensch noch in tiefer, traumartiger Verbundenheit mit der Natur zu begreifen begann – mit einer Auffassung von „Natur“ selbstverständlich unter voller Einbeziehung der Sterne, des gesamten Kosmos.
Abbildung 1: Der Dolmen von Fontanaju, etwa 4.000 bis 4.500 Jahre alt, steht in der Region Cauria in Korsika und ist einer der schönsten Dolmen der Welt. Er ist so gebaut, dass die Sonne beim ihrem Aufgehen am Tag der Wintersonnwende bis zur Rückwand des Dolmens scheint – als einzigen Tag im Jahr.
Astrologie ist ein magisch-mythisches System, denn sie hat ihren Ursprung in genau diesen Gebser´schen Bewusstseinsstrukturen. Somit ist die Astrologie vom Wesen her kein mental-rationales Konstrukt, das sich daher auch wissenschaftlicher Erfassung und Evidenzbeweisen entzieht – selbst wenn manche Zusammenhänge durchaus wissenschaftlich erforscht wurden und erforscht werden können (wie etwa der Einfluss von Sonne und Mond auf unsere gesamte Natur, oder der Einfluss großer Planetentransite auf individuelle wie kollektive Transformationsdynamiken). So ist der Bezug zur Persönlichkeit, deren Entwicklung bis zum Wesen ein mythisch-irrationaler. Allerdings nicht weniger zutreffend als jede Psychotherapie, die sich ja auch per se mit dem Irrationalen – unserem vorwiegend unbewussten Leben – beschäftigt.
Abbildung 2: Das Geburtshoroskop von Johannette Maria zu Wied, 1615
Doch die Astrologie geht in gewisser Weise viel weiter als jede Psychotherapie gehen kann: sie zeigt Entwicklungswege auf, lässt Wachstumskrisen aus einer übergeordneten Perspektive verstehen und nutzen, sie liefert über Beziehungshoroskope und deren Deutungen wertvolle Hinweise zu einem tieferen Verständnis des Zusammenlebens, und stellt schließlich weitreichende transpersonale Potenziale dar und ermöglicht so Perspektiven einer holistischen Lebensentwicklung von der Anlage (der Geburt) bis zum Tod.
Dieser Abend ist auch der Entwicklung der Astrologie über die Jahrtausende und den damit einhergehenden Zahlensystemen, welche die arithmetische Grundstruktur des Bewusstseins abbilden, gewidmet. Denn eine Welt, die auf einem Dezimalsystem aufbaut, strukturiert sich sehr viel anders, als etwa Welt mit der arithmetischen Basis der Zwölf (die mesopotamische wie heute zum Teil noch die englischen Messsysteme) oder der Sieben (wie der alten indischen), der Neun (wie das Enneagramm der Sufi) oder gar der Zwanzig (wie die Mayakulturen).
Daraus lassen sich erhellende Vergleiche verschiedener, aus der Astrologie entsprungenen Zahlen- und Symbolsystemen, ihrer kulturbegründenden Kräfte und ihrer Nützlichkeiten ableiten – bis hin zu möglichen Einsichten über die auf der ganzen Welt verbreiteten Megalith-Bauwerke, die ebenfalls einen hohen Anteil an astronomischer und astrologischer Systematik zeigen. Somit spannt sich die Astrologie von den Ursprüngen menschlicher Kultur bis heute an der Schwelle zum integralen Bewusstsein.
Abbildung 3: „Weltmodell von Johannes Kepler, um 1600“
So hat jede Epoche ihre je eigenen astrologischen Systeme hervorgebracht, die dem jeweiligen Wissen- und Bewusstseinsstand entsprachen und auf diesen weitertreibend zurückwirkten. Bis ins Spätmittelalter und der Renaissance bestimmte ein alchemistischer Zugang das astrologische System, dann kamen Johannes Kepler und Ticho de Brahe und verschränkten die Astrologie mit der neu entstehenden Naturwissenschaft mit ihrer neuen Mathematik und dem Verständnis der elliptischen Planetenbahnen. Mit dem 18. Jahrhundert begannen die astronomischen Entdeckungen die Astrologie vom Grund auf zu verändern: die Entdeckung des Uranus (13.3.1781), des Neptun (23.9.1846) und schließlich des Pluto (1.1.1801) verlangten neue Zuordnungen von Sternzeichen und Planet, und das ganze, bis dahin so schöne symmetrische Bild fiel auseinander. Mit der Moderne, noch mehr mit der Postmodernen des 20. Jahrhunderts, tauchten zahlreiche Modifikationen und Variationen auf, die zum Teil nur mehr die Profilierungsneurosen mancher Astrologen widerspiegelten als eine sinnhafte Weiterentwicklung darzustellen.
Abbildung 4: Das Tageshoroskop vom 15. Mai 2019, 20:00, erstellt mit der Software Sarastro von Peter Fraiss.
Schließlich die Esoterik des New Age (ab etwa 1980) und ihre zahllosen Spielarten heute: eine überbordende Fülle postmodern-beliebiger Zuordnungen und Deutungsspielereien machten die Astrologie zu einem höchst verwässerten Feld von subjektiven, oftmals gechannelten „Weisheits“-Verirrungen, die ich nur als entbehrliche Dummheiten sehen kann.
Dass dieses Durcheinander von jeglicher Wissenschaft als kompletter Humbug abgelehnt wird, ist also durchaus verständlich – wenn dies auch noch andere, tiefergehende Gründe hat, auf die ich in der Schule immer wieder hinweisen werde.
Abbildung 5: DAS RAD von Arnold Keyserling in der Gestaltung von Ernst Graf
Wie nun eine integrale Astrologie aussehen kann, hat uns als vielleicht Allererster der Wiener Philosoph Arnold Keyserling gezeigt. Denn wie jede anthropologische Epoche und jede Gebser´sche Bewusstseinsstruktur ihre je eigene, besondere Astrologie hervorbrachte, so wird auch die integrale Bewusstseinsstruktur ihre eigene (neue) Astrologie formulieren. DAS RAD von Arnold und Wilhelmine Keyserling als Integration aller auf unserem Planeten vorkommenden Zahlen-, Bedeutungs- und Welterklärungssysteme geschaffen, weist uns einen anspruchsvollen, aber durchaus gangbaren Weg zu einem integralen Verständnis des menschlichen Bewusstseins, ja unseres gesamten Lebens schlechthin. Auch wenn an diesem Abend DAS RAD nur kurz gestreift werden kann: es werden weitere Abende zu diesem Thema folgen.
Ab dem Herbst 2019 sind weitere Abende zur Einbettung der Astrologie in verschiedene Kontexte in Richtung einer integralen Astrologie geplant.
Wie immer werden wir über die Webpage und Newsletter darüber informieren.
Dr. Rudolf Kapellner
Wien, im April 2019
PS: Das Titelbild für diesen Text zeigt im linken Teil die etwa 3.700 bis 4.100 Jahre alte Himmelsscheine von Nebra und im rechten Teil DAS RAD von Arnold Keyserling in der Gestaltung von Ernst Graf