Eine Hommage an Jean Gebser
Vortrag von Rudolf Kapellner
27.10.2018 anlässlich der Vernissage von Gebser Band III in Bern.
Zuerst bedanke ich mich für die Einladung, bei dieser Vernissage von Jean Gebsers „Spielendem Gelingen“ sprechen zu dürfen – es ist mir eine große Freude und auch eine große Ehre.
Und dann auch meinen Dank an Elmar Schübl für die kurze aber gelungene Vorstellung meiner Person – dies ist keine so einfache Sache wie es zu sein scheint, kann ich es doch selbst nicht sagen, wer ich denn sei…
Ich werde in den kommenden wenigen Minuten drei Schwerpunkte setzen, allesamt beziehen sie sich auf die konkreten Ein- und Auswirkungen von Jean Gebsers Werk – allerdings in nicht strikt chronologischer, sondern eher thematisch verknüpfter Weise
- auf meinem persönlichen Leben
- in meinem beruflichen Wirken
- auf andere Menschen, die in meinem Umfeld von mir über Jean Gebser hörten und dies in deren Wirkfelder einfließen lassen.
Gleich vorweg zu Beginn: Ich bekenne mich reuig, ich habe Werke von Jean Gebser zwar schon 1988 in den Händen gehabt und auch in einem meiner ersten Bücher 1992 mehrfach erwähnt, aber nicht einigermaßen in seiner Tiefe und Konsequenz verstanden. Ich war zwar angetan gewesen, doch die wirkliche Begeisterung sollte erst Jahrzehnte später kommen – dies war und ist Elmar Schübls Verdienst seit dem Jahr 2016 – herzlichen Dank an ihn!
Vieles von der praktischen Unmöglichkeit mich vorzustellen (wie Elmar es versuchte), wurzelt in meinem unbedingten wissen- und verstehen-Wollen von Allem – was mich schon in der Jugend vor sich her getrieben hatte. Unfähig, mich für ein einzelnes Studienfach zu entscheiden, wurden es dann drei – letztlich nur als ein studium irregulare unter dem Dach der Philosophie möglich (damals waren die Universitäten noch echte Wissens- und Entwicklungsräume und keineswegs so verschult und rigide wie heute). Übrigens: im Philosophiestudium kam Jean Gebser nicht vor….
So studierte ich ab 1972 eine Fächerkombination mit einer selbst zusammengestellten Vorlesungsauswahl von Psychologie mit Nebenfach Pädagogik, lernte Nachrichtentechnik und Elektronik (später am Institut für Industrielle Elektronik, was es damals noch als eigenes Fach gab), Physiologie (ein Teilgebiet der Medizin), und schließlich noch Philosophie des studium irregulare wegen.
Damals wurde ich oft gefragt, was ich denn nun tatsächlich studiere, selbst von meinem Vater; meiner Aufzählung folgte fast immer ein verständnisloses „Das passt ja gar nicht zusammen!“. Auf meine einfache Antwort „ja, aber gerade deswegen studiere ich es!“ erntete ich fast immer nur Kopfschütteln.
Doch so einfach war die ganze Angelegenheit doch nicht gewesen. Ein Beispiel:
Als ich in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre an der Technischen Universität im Institut für Industrielle Elektronik schon als Studienassistent arbeitete und kurzfristig Laborübungen unterrichtete, ärgerte ich mich über die faulen Studenten, dass sie die doch so anschaulichen, kurzen Vorbereitungen nicht gelesen hatten. Um dann ein paar Stunden später zur Alten Universität rüber zu hasten und dort in der Psychologie (die ich noch nicht fertig hatte) mich über die lästigen Assistenten zu ärgern, die dauernd wollten, dass man ihre Vorbereitungen liest, wo ich doch keine Zeit hatte….
Diese Widersprüchlichkeit plagte mich lange. So lernte ich, dass diese Studienfächer gleichzeitig ganz unterschiedliche Welten waren, und das nicht nur in fachlicher Hinsicht. Denn es geht mit jeder dieser Fächer eine je eigene Weltsicht und Welthandhabung einher: In der Technik ist alles klar und berechenbar; die Psychologie ist ständig unscharf und oftmals irrational (es „menschelt“), und die Medizin erschien mir oft mehr wie eine „magische Heil-Zauber-Kunst“ denn eine Wissenschaft, wie die Technik sich zeigte.
Zwischenzeitliche und auch in den späteren Jahren parallel dazu betriebene mehrjährige Ausflüge in verschiedene Psychotherapien (Freud´sche Psychoanalyse, Neo-Reichianischen Körpertherapien wie Bioenergetik, Biodynamik und Core-Energetics. NLP und auch Jung´sche Schattenarbeit bis am Ende Psychodrama mit Masken) erhöhten die innere Komplexität weiterhin kontinuierlich und drastisch und drohten mich phasenweise innerlich zu zerreißen, ja sogar zu zersplittern. Dabei folgte ich doch nur meinen inneren Interessen….
Doch solche interdisziplinären Studien öffnen nicht nur den Raum zwischen den Fächern („inter“), sondern noch einen viel größeren Raum „drum herum“ („trans“). Die Herausforderung war, ein Innenleben zu entwickeln, das mir all diese selbstgewählten Welten in mir aushalten und ertragen ließ und letztlich zu integrieren erlaubte.
Denn die Frage dahinter lautete: Wer oder was bin ich nun wirklich? Bin ich Techniker, Psychologe, Physiologe, Hirnforscher (wie in den Jahren 1976 bis 1995), oder Unternehmer, Consultant, Coach, gar Therapeut? Ich vermochte es nicht zu sagen, weder mir selbst noch anderen – war ich alle? keiner? oder bloß eine üble, vielleicht sogar kranke Vermischung? oder nur von Zeit zu Zeit?
Die Lösung musste wohl sein: nicht Ichlosigkeit (ich habe gar kein Ich, das sich zu verorten drängt), sondern Ichfreiheit: die freie Wahl, eine (letztlich: jede) Identität für eine bestimmte Weile oder je nach Gelegenheit annehmen zu können, frei von Anhaftungen, je nach Nützlichkeit und je Umfeld. Doch: ich bin die alle eben nicht, auch wenn ich sie bin, obwohl ich sie ja gar nicht sein will – wer also wäre ich dann am Ende?
Nun, einfach: der, der ich bin. Und auch nicht.
War das schon eine Anmutung eines aufziehenden integralen Bewusstseins? gar eines advaita?
Das war mein Weg in den jüngeren Jahren, den ich etwas später von Jean Gebser auf so wunderbare Weise aufgerollt bekam, samt zahlreichen weiteren Impulsen und Erläuterungen, wie den Begriff „souveräne Überwachheit der Ichfreiheit“ (S172), die mich leiteten und auch erleichterten („enlightened“), also „lichteten“.
Gegen Ende des Studium, das in Summe immerhin 11 Jahre gedauert hatte, wiewohl ich die ganze Zeit über auch gearbeitet hatte (vorwiegend an der Technischen Universität, aber auch in der Univ. Klinik für Psychiatrie) erkannte ich, dass es für meine Qualifikationen keine vorgefertigte Arbeitsstelle geben würde. Also machte ich mich 1985 als Unternehmer selbständig und gründete in Wien das Seminarzentrum Focus (später, ab 2014 dann Bewusst Sein im Fokus) für Persönlichkeitsentwicklung und Bewusstseinskultur (das erste dieser Art in Wien). Im Focus setzten wir jedes Semester ganz bewusst deutlich andere inhaltliche Schwerpunkte und organisierten mit großen Lehrern und Meistern aus aller Welt vielfältige und verschiedenste Veranstaltungen. Weiters erweiterte ich meine Firma zu einem Beratungsunternehmen für ökonomische Zukunftsstrategieentwicklung, mit dem ich genügend Geld verdiente, um das Seminarzentrum auch immer wieder quersubventionieren zu können – war doch solcherartige Bewusstseinsarbeit zu dieser Zeit pure Pionierarbeit mit wiederkehrenden monetären Verlusten.
1988 lernte ich Gebsers Werk erstmals (oberflächlich) kennen, ohne dessen Tiefe (wie schon eingangs erwähnt) wirklich zu erfassen – selbst wenn Gebsers Anleitungen die Hilfestellung und Orientierung gab, die wir alle damals so sehr gebraucht hätten.
So konnte ich – ohne „Asien lächelt anders“ zu kennen – meine Begegnungen mit asiatischen Lehrern und Meistern einigermaßen handhaben – wie den alten Japaner, bei dem ich die Kampfkunst Ken-Juitsu erlernte, die tibetischen Buddhisten, die mir das Bardö Todol und das Karma Kagyö nahebrachten, den Rinsei-Lehrer Genro Roshi oder das Tai-Chi der Shan-Buddhisten und das Tantra von Ajit Mookerjee und Swami Muktananda, um nur einige der wichtigsten Lehrer zu nennen.
In meinem Leben gab es mehrere Stationen mit großen mehrjährigen internationalen Projekten. Doch viel fordernder wie fruchtbarer waren die durchlaufenden Linien, die ich in (mental-rational-wissenschaftlicher) Theorie, psychischer Praxis und ständigem Changieren zwischen den Welten durchlebte.
Die Jahre im Seminarzentrum Focus ließen mich wachsen und gleichzeitig oftmals im Sumpf von Vertauschung, Regression, Vermeidung und Verwirrung versinken. Wir hatten uns verpflichtet, jedes Semester einen anderen inhaltlichen Schwerpunkt zu setzen und dafür international anerkannte Lehrer, Wissenschafter und Meister einzuladen. Meine Lern- wie Erlebensmöglichkeiten waren riesig – machte ich doch das zum Vollzeitberuf, was andere nur in ihrer Freizeit betrieben: Selbsterfahrung, Bewusstseinserfahrung, Trancen, Meditationen… so lernte ich zahlreiche Bewusstseinspraktiken kennen, wie schamanische Praktiken, einige Yoga-Arten, verschiedene Meditationsformen, Tai Chi und Shan Buddhismus, Sufismus, hypnagoge Trancen, Encounter, Rhythmusarbeit, Tantra u.v.a.m.
Wichtig war mir immer, dass all dies nicht nur eine „mentale Frage“ sei, sondern immer zumindest ein Neben- oder Hintereinander oft höchst widersprüchlicher Konzepte und Praktiken. Offen für (fast) alles, religiös und politisch neutral, durfte dies alles im Seminarzentrum Focus lebendig sein, solange es unseren sehr hohen Qualitätsanforderungen entsprach. Doch während die Besucher sich ihre Veranstaltungen entlang ihrer persönlichen Themen auswählten und dann wieder gingen, setzte ich mich fast allen dieser Themenräume in Theorie und Praxis fortgesetzt aus – und hatte wieder die Herausforderung des Gleichzeitigen jenseits einer rein rational-mentalen Struktur.
Chaotische Lebenspraxis eines emergierenden integralen Bewusstseins, würde ich heute sagen. Ohne Gebsers Leitfäden wäre es unlebbar gewesen, ich wäre vielleicht sogar zerbrochen oder in Mystizismus versunken. So bin ich ein „Überlebender“.
Mit Entwicklung und Bau einer höchstpreisigen audiovisuellen
Mind Machine zu Beginn der 1990er Jahre, der FOCUS 101 (die heute noch eine Legende ist), kehrte die Technik wieder. Der damit in das Consulting von Vorständen großer einhergehende Einstieg großer Unternehmen wurde mir unter anderem in Rüschlikon im Gottlieb Duttweiler Institut (GDI) ermöglicht, wo ich anfangs der 1990er eine Konferenz „Mentale Fitness für Führungskräfte“ gestalten und moderieren durfte. Mein erster großer Kunde war der Vorstand von Roche Pharma Schweiz in Basel gewesen – für meine Freunde in Wien im Zentrum für Bewusstseinskultur war das übelster Verrat, arbeitete ich doch für den „Feind“ Pharmaindustrie.
Und: wieder eine Notwendigkeit, scheinbar nicht zu vereinbarendes integrieren zu müssen in einer Gleichzeitigkeit von (scheinbaren) Gegensätzlichem.
Damals, Anfang der 1990er-Jahre kam im Business gerade das Thema „Marken-Mythen“ auf. Für meine Coachings und Consultings entwickelte ich eine Landkarte des Bewusstseins, die auch von Jean Gebser wie auch vielen anderen inspiriert war. Das Magische und das Mythische stand neben dem Logisch-Rationalen, führte zum Transrationalen und schließlich zum Transpersonalen und zum a-logischen Bewusstsein. Was Führungsmenschen damals kaum zu vermitteln war… doch angestrebt hatte ich es zumindest.
Dennoch unzufrieden mit meinen selbst zusammengetragenen Landkarten suchte ich ständig weitere Landkarten und wurde vor allem in der Anthropologie fündig. Ich konstruierte in den 1990er-Jahren ein aus etlichen wissenschaftlichen Modellen zusammengeführtes Stufenmodell des Bewusstseins, das mich weitere 15, 20 Jahre leiten sollte. Doch aus den vier „Anthropologischen Räumen“ von P. Lévy (Stamm: 50.000 Jahre; Territorium: 5.000 Jahre; Ware: 500 Jahre und Wissen: 50 Jahre) war damals schon klar, dass wir noch zu unseren Lebzeiten einen fünften anthropologischen Raum aufziehen sehen und erleben werden – doch welcher würde es sein? Ich vertrat die Ansicht: es müsse der Raum „Bewusstsein“ sein – doch: würde dieser dann 5 Jahre dauern, der nächste dann 5 Monate usw. usf. – eine weitere tiefgehende Unzufriedenheit mangels eines kontextierenden und damit einbettenden theoretischen Bewusstseinsmodells.
Eine der weiteren ständigen Linien meines Lebens wurzelte in der Lebenspartnerschaft mit Dr. Brigitte Sumetsberger. Sie war Physikerin, arbeitete an der Technischen Universität zu neuen Farblasertechnologien und bei der ESA an Satellitenkommunikation – ich selbst hingegen war bloß Techniker (noch dazu nur mit einem meiner „Beine“). Daher waren lange Diskussionen wie etwa über Niels Bohrs Satz der „interdependenten Komplementarität“ von Licht (Teilchen und Welle) aus den 1920er-Jahren an der Tagesordnung. Sie, die Physikerin, meinte, dies könne man nicht wirklich verstehen, heißt: mit dem Verstand erfassen, sondern nur rechnen (mit der Mathematik als Basis der Physik). Ich hielt dagegen, ich versuche genau dies zu leben: als „Innentechnik“ den irrationalen Polaritäts-Charakter (ein „Symbolon“), als „Außentechnik“ die rational-logische Gegensatz-Systematik (ein „Diabolon“), was sich gemeinsam nur in einer neuen, einer arationalen Lebensform umsetzen und verwirklichen lässt. Später in ihrem viel zu kurzen Leben gelangte sie zu einer ebensolchen Haltung. Doch einfach war es niemals gewesen.
Darüber jetzt bei Gebser wieder zu lesen, war mehr als nur eine Bestätigung….
Die lange Krankheit und der nachfolgende Tod meiner Frau Brigitte (mit der ich 27 Jahre meines Lebens verbringen durfte), zwang mich im Jahr 2013 mit fast 60 Jahren zu einem kompletten Neustart, da ich in den 12 Jahren vor ihrem Tod auch alles Berufliche mit ihr gemeinsam geteilt hatte.
Der erste Schritt in ein neues Leben war Anfang 2015 mit der Gründung einer Akademie für Bewusstseinsforschung in Wien, unter Einbeziehung von Teilen meines alten wissenschaftlichen Netzwerkes. Diese kleine, doch vollkommen unabhängige Einrichtung trug bereits den Keim einer neuen Integralität in sich, wenn auch noch mit vielen Fehlern persönlicher wie struktureller Art behaftet.
In diesem Rahmen lernte ich im Frühjahr 2016 Elmar Schübl kennen und mit ihm Jean Gebser – und erkannte viele meiner Experimente und „Ver-rückt-heiten“ nicht nur als Irrwege und Fehleinschätzungen, sondern als durchaus sinnhafte Schritte zu einem integralen Bewusstsein.
Heute sage ich: lieber spät als nie.
Denn mit dem für mich nunmehr „neuen“ Jean Gebser taten sich zahl- und umfangreiche Klärung meines lebenslangen Suchens und Strebens auf:
Ich lernte neu zu unterscheiden, wie und welche Bewusstseinsstrukturen unsere menschliche Konstitution begründen, lernte das Magische viel klarer von Mythischen zu unterscheiden, lernte die Bedeutung des Ich als ein Dazwischen-Gestelltes zwischen (innerem) Wesen und (äußerer) Realität zu verstehen.
Ich lernte Gebsers Unterscheidung in effiziente und defiziente Auswirkungen von Bewusstseinsstrukturen und die gesellschaftlichen Dynamiken des Umgangs damit – was meine seit meiner Jugend bestehende gesellschaftskritische Grundhaltung in einen neuen, viel weiteren Kontext stellte;
ich lernte meinen als durchaus angebracht anzuerkennenden Widerwillen über die so allmächtig scheinende Dominanz des Rationalen als defiziente Auswirkung der mental-rationalen Bewusstseinsstruktur zu verstehen;
ich konnte meine jugendliche Begeisterung am maoistischen Marxismus-Leninismus, dem ich ein paar wenige Jahre angehangen war und die bald in ein rüdes Abwenden mit darauffolgendem jahrelangen und mühsamen inneren Aufarbeiten dieser „Ent-Geisterung“ mündete, ein neues, qualitativ höchst beeindruckendes und fundamentales Kritikelement hinzufügen: die Einsicht in die Vermischung von Polarität und Gegensatz, wo beides doch unterschiedlichen Bewusstseinsstrukturen bzw. -frequenzen entspringt – dank der bewundernswerten Unterscheidungskraft Gebsers in „Verbeugung vor Laotse“;
und ich lernte „lichtende“ Anleitungen für die eigene Bewusstseinsarbeit wie die von Schülern, Klienten und Weggefährten kennen – als vielleicht wichtigsten Impact für die Bewusstseinsarbeit, erlaubt es doch, zwischen „rückwärtsgewandter, regressiver Esoterik“ und „ichfreiem integralen Bewusstsein“ zu unterscheiden und andere dabei begleiten zu können.
Denn die in den letzten Jahren immer wilder ausufernde esoterische Weltbehandlung war mir immer ein Gräuel gewesen. Im Seminarzentrum Focus hatten wir ja immer wieder Lehrer und Meister aus allen Kontinenten zu Gast. Manche deren Lehren und Übungen waren von diesen esoterischen Auswüchsen durchwoben gewesen, die Gebser als „materialistischen Betrug“ (S. 243) bezeichnet, und manchmal waren sie getragen von dem, was Gebser „Selbstbefreiung, Glückseligkeit und Weltüberwindung“ nennt (S. 244).
Erst im Nachhinein, nach Jahrzehnten des ständigen Konfliktes mit Psychedelik-Szenen und ihrem sich Verlieren und Entrücken in narkotischen Räuschen, des endlosen Konfliktes mit der überall verbreiteten Verwechslung von Ichlosigkeit mit Ichfreiheit, dem heute allgegenwärtigen rückwärtsgewandt esoterischen und postmodern beliebigen Eklektizismus, des permanenten und so ermüdenden Konfliktes mit der Unwilligkeit zur harten wie absichtslosen Arbeit an sich selbst (S. 238), des „täglichen Jätens“ (S. 235), dem so faulen Verzicht auf Reifung und Überwindung seiner selbst und stattdessen eine Selbstaufgabe als defiziente Mystik anzustreben, die verwirrende Verwechslung von Samadhi (irrational!) mit Satori (arational!) (S. 238) – all das geriet mir durch Gebsers Benennung des Überweltlichen Bewusstseins (des Letztwirklichen, S. 236, Geistwesens, Urgrund, eben: Wesen) zur Wohltat und zur Befreiung von all den Konflikten. Die chronische Verzweiflung beim Versuch, dies alles in mental-rational definierbare Kategorien überzuführen, was letztlich immer Scheitern musste, war aufgelöst durch die so ausführlichen wie klaren Anleitungen zur Bewusstwerdung. Denn die Teilhabe am Weltganzen hat das integrale Bewusstsein zur Voraussetzung (S. 244).
So war es denn auch die Dimension der Transparenz, die Gebser so genannt hatte, die mich über alles berührte – gerade weil Gebser dies niemals spirituelle Dimension nannte. Der esoterische Philosoph Ken Wilber, der ein scholastisches Stufenmodell der Bewusstseinsevolution propagiert, hatte schon in den 1980er Jahren von Gebser abgeschrieben, und noch dazu falsch und verdreht. Gebser verwendet den Begriff Struktur oder Frequenz statt des mental-rationalen Stufen-Raum-Konzeptes, für Gebser ist es nicht Evolution, sondern permanent (an)wesendes advaita und anatta.
So also Gebsers Lehren für mich: Leben als „tätige Auseinandersetzung mit des Lebens Misshelligkeiten und Leiden und Dankbarkeit für die uns übertragene Schönheit und Weisheit“ (S. 220); eine bewusste Integration der „Sowohl-als-auch“-Struktur“, welches die heutige dualistische „Entweder-oder“-Alternative in der Denkweise um die „arationale „Denk“-Möglichkeit und Bewusstseinsstruktur bereichert. (S. 229).
Und von ganzem Herzen stimme ich zu wenn er sagt (S. 230), die vornehmlichste Leistung für das kommende Zeitalter müsse genau diese Verwirklichung sein. Dieser Transparenz des Letztwirklichen kann man sich weder rauschhaft ergeben, noch sie erfühlen noch rational erdenken, sondern nur ihrer gewahr sein. Es ist also keine „unio mystica“, wie ich lange Zeit glaubte, sondern das advaita der Nicht-Zweiheit.
Die Dimension der Transparenz, die Gebser gerade in diesem 3. Band auftut, verbindet (integriert) einen Karlfried Graf Dürckheim, einen Meister Eckehart, einen Sri Aurobindo und einen Daisetz Teitaro Suzuki mit lichter Klarheit und beeindruckender Eleganz: Das Licht der Transparenz, die keine „Lichterscheinung“ ist und nichts mit mystisch-schwärmerischen Unifikationsrausch oder bewusstseinsschwächend-magischer Einigung zu tun hat.
Statt dessen fordert er ein tägliches Arbeiten („Jäten“) ohne nach großen Erfahrungen zu schielen. Wir dürfen es nicht um unser selbst willen tun, um der Manifestation des überweltlichen Bewusstseins teilhaftig zu werden. Dies ist die geistige Kraft der Menschheit, die verwirklichte Transparenz. (S. 236)
Das will ich meine bewusste Heimat, meinen Urgrund sein lassen.
Dieses neue Bewusstsein (S. 241) will ich tragen und wirken lassen zur konsequenten Ausgestaltung unserer bisherigen Bewusstseinsmöglichkeiten (S. 244). Unter Akzeptanz des mitkonstituierenden Mitwirkens der archaischen, magischen und mythischen Strukturen, um Klarheit zu erlangen durch ständige und klärende Arbeit an sich selber – wozu keiner ja so unbedingt von vornherein bereit ist.
Letztlich: Zur Teilhabe am Weltganzen (S. 247).
Dies als weit und doch nicht vollständig gefassten Abriss von den Wellen, die von Jean Gebser ausgehend in meinem Leben gewirkt haben und noch immer wirken.
Wie hat dies alles nun in mein „äußeres“ Wirkfeld hineingewellt?
In den letzten Jahren ganz klar in der Akademie für Bewusstseinsforschung – die ich ja immer noch viel mehr als Pilotprojekt sehe denn als Institution. Von der Vision bis zu den wissenschaftlichen Grundlagen und dem jeweiligen Programm den Geist Gebsers hineinzuwirken bedarf noch einiger Mühe – nicht nur für mich, sondern auch oder besonders für jene jungen Anthropologen, die häufig dazu neigen, die Bewusstseinsstrukturen früherer, v.a. indigener Kulturen als die „besseren“ zu betrachten, ohne den regressiven Charakter ihres Tuns zu sehen.
Dabei hat sich gezeigt, dass die meisten der akademischen Bewusstseinsforscher, v.a. diejenigen unter 35, 40 Jahren, gar nicht so viel Eigenpraxis betreiben wollen – sie bleiben lieber mental im Kopf denn sich hartes „Jäten“ des eigenen Bewusstseinsgartens anzutun …. auch da habe ich noch einige Runden zu wirken….
So entstand dann auch 2017 die Schule für Bewusstsein als genau jener Raum für Praxis, Übung und Arbeit an sich selber, die in der so ausschließlich mental ausgerichteten akademischen Welt (die ich manchmal spöttisch auch „Akademenzia“ nenne) so schwierig zu platzieren ist. Und dies – wie könnte es anders sein – als ein gemeinsames Üben „auf dem Weg zur Integralen Bewusstseinskultur“ mit viel mehr Freude und Lichtung als im Akademischen je möglich…
Auch im Consulting und Coaching habe ich eine durchgängige „Gebser-Linie“ etabliert: magisch/ritualisiert – mythisch/psychisch – mental/rational – arational/integral als Bewusstseinsstrukturen auch oder besonders für Führungskräfte v.a. wenn sie Zukunfts-Gestaltung betreiben wollen: denn wir erschaffen Zukunft als Verwirklichung des menschlichen Potenziales in Wirklichkeit aus allen konstituierenden Bewusstseinsfrequenzen heraus, auch wenn wir glauben, wir seien doch so „rational“ unterwegs… doch stattdessen kreieren wir Zukunft mindestens genau so sehr aus mythischen und sogar magischen Rückgriffen, allerdings unbewusst und damit unerkannt und oftmals verbogen und verzerrt. Dies zu erforschen und in meine Zukunftsstrategie-Consultings einzubauen, war eindeutig auf Gebser zurückzuführen, ja von ihm erst ermöglicht. So mancher meiner Studenten an mehreren Wirtschaftsuniversitäten wurde zum Nachahmer und Weiterträger dieses integralen Ansatzes – was mich besonders freut, da ich damit das Werk Gebsers weitergeben und über meine Person hinaus weiterwirken lassen konnte und kann.
Selbst in meinem neu erworbenen Verlag evolver books soll die Verlagslinie von Gebser inspiriert und auch als solche kommuniziert werden: dient das zu verlegende Werk als Wegbereiter für das integrale Bewusstsein? fördert es dieses oder wirkt es dagegen? Denn als „junger Verleger“ will, ja muss ich diese mir selbst auferlegte Messlatte achten.
Zu guter Letzt will ich mich noch den Kindern einer Kindergruppe in Wien, die meine neu ins Leben getretene Frau leitet, zuwenden. Befeuert von den Gebser´schen Bewusstseinsstrukturen hat sie in den letzten Jahren ihr von Maria Montessori geprägtes pädagogisches Konzept fundamental erweitert. Denn so konnte sie die Wirksamkeiten der uns Menschen konstituierenden Bewusstseinsfrequenzen auf transparente und leichte Weise wahrnehmen und weitergeben an Kinder wie Eltern wie anderen Pädagogen.
Kinder kommen mit zweieinhalb oder drei Jahren aus der frühen magischen Phase in den Kindergarten, verbringen dort spielend viele Stunden und ganze Tage in der magischen und mythische Welt, um dann doch auf die mentale Ich-Ausformung zugehen zu müssen. Die (defiziente) Dominanz des Rationalen, dem v.a. die Eltern verfallen sind, steuert sie gegen, indem sie allen drei Bewusstseinswelten ausreichend Raum gibt und den Kindern diese Unterscheidungen mit ihren verschiedenen Auswirkungen und Spiel-Freuden auch vermittelt (was unerwartet leicht geht), aber auch den Eltern (was erwartungsgemäß sehr schwer geht). So verbindet sie die „kosmische Erziehung“ (Maria Montessori) mit dem Setzen erzieherischer Grundsteine für ein integrales Bewusstsein – bei den Kindern, aber auch bei den Eltern, und wirkt gegen verwirrende Vermischungen wie herablassendes Verächtlich-Machen der vor-mentalen Welten (tritt besonders bei den Eltern und Erwachsenen auf). Sie sieht es als ein Bewahren dieser konstituierenden Bewusstseinsstrukturen als integraler Teil der menschlichen Existenz, die bei den Kindern jenen Boden bereiten soll, wozu sie einmal als Teil der Menschheit werden sollen.
Ein Zwischenergebnis dieser integralen Herangehensweise: eine „Generationenpädagogik“; die Kinder, Eltern und Großeltern gleichermaßen einbezieht; und ein Weitertragen der Wahrnehmung und des gelegentlichen Spielens in magischen und mythischen Räumen selbst wenn die Kinder in der Schule bereits voll auf den mental-rationalen Kurs konditioniert werden – was von allen (Kindern, Eltern und auch manchen Lehrern der Volksschulen) zwar manchmal mit Skepsis, dann aber mit großer Freude und Begeisterung aufgenommen wird.
Ich könnte noch viele andere Beispiele bringen, ebenfalls faszinierend und zur Zuversicht anregend, doch dies soll in weiteren Veranstaltungen, z.B. in der Akademie für Bewusstseinsforschung und in der Schule für Bewusstsein und – so möglich – in vielen anderen Einrichtungen weitergeführt werden.
Für heute bedanke ich mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit
und verneige mich vor Jean Gebser und seinem Werk in großer Hochachtung.
Wien und Bern, am 27. Oktober 2018